von Lisa Keilhofer

Das Artensterben greift auch in uns um sich

Wir alle haben es längst als tragische Realität akzeptiert: Wir befinden uns in einem gigantischen globalen Artensterben. Die Ursache dafür liegt in dem rasanten Wandel der Ökosysteme, bedingt durch Klimaerwärmung oder vollständige Zerstörung von Lebensräumen. Unterm Strich können wir zusammenfassen, dass wir Menschen unseren Planeten schneller verändern als sich das dort ansässige Leben anpassen kann.

Seit einiger Zeit wissen wir, dass nicht nur um uns herum, sondern auch auf und vor allem in uns Millionen von Kleinstlebewesen wohnen. Sie sind perfekt angepasst an die jeweiligen Bedingungen und haben sich in Jahrtausende langer Koexistenz nicht nur zu nützlichen Helferlein, sondern zu überlebensnotwendigen Werkzeugen entwickelt. Umso erschreckender ist es, dass das Artensterben nicht nur die Welt um uns herum, sondern auch unser Inneres betrifft.

Wie steht es um unser inneres Ökosystem?

Am dichtesten ist unser Lebensraum im Darm besiedelt. Zählungen ergaben, dass das Verhältnis von körpereigenen Zellen zu Mikroben-Zellen im Verhältnis von 1:1,3 steht. Damit schlagen unsere Mitbewohner auch mit immerhin 1-3% unseres Gesamtgewichts zu Buche, das sind einige hundert Gramm (ein ausführlicher Bericht, wer wo lebt, ist hier zu finden: 10 Fakten über dein Mikrobiom - MyMicrobiome). Deswegen befassen sich auch besonders viele Studien mit dem Darm-Mikrobiom. Und leider ist das Ergebnis ernüchternd: Auch unser intestinales Ökosystem ist in seiner Artenvielfalt stark rückläufig.

Das weiß man vor allem aus Vergleichsproben, die man etwa vom Steinzeitmann Ötzi, von Mumien, Moorleichen oder vergleichbaren „Spendern“ entnehmen konnte. Ötzi, um gleich beim ersten Beispiel zu bleiben, zeigte sich als deutlich dichter besiedelt und mit höherer Diversität als wir heutigen Menschen (1). Als Referenzgröße wurde unter anderem das Vorkommen von Prevotella copri, ein Darmbakterium, das vor allem für die Verwertung von komplexen pflanzlichen Nahrungsmitteln zuständig ist, herangezogen. Die Mikrobe hilft bei der Reduktion von Entzündungen. Ihr verringertes Vorkommen steht im Verdacht zahlreiche Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Reizdarm, usw. zu begünstigen. Auch deswegen gilt der Schwund ihres Vorkommens als Indikator für die negativen Einflüsse unserer modernen Lebensweise. Können bei Naturvölkern noch alle vier Stämme des P. copri nachgewiesen werden, besiedeln den westlichen Darm nur mehr ein Stamm. Auch Ötzis Darm-Mikrobiom weist noch alle vier P. copri Stämme vor.

Dass es nicht einfach nur ein paar Bakterien weniger sind, sondern einschneidende Verluste in einem hochkomplexen und fein austarierten Ökosystem, verdeutlicht etwa die Abhandlung von Sandrine P. Claus. Claus fasst einige weitere Vorgängerstudien um das Vorkommen von P. copri Stämmen in menschlichen Darm-Mikrobiom zusammen und kommt zu dem Schluss, dass vor allem das Ungleichgewicht, also der Wegfall von einem oder mehreren der vier bekannten Stämme, Krankheitsbilder begünstigen (2).

Eine Veröffentlichung des Instituts für Mumienforschung EURAC RESEARCH im italienischen Bozen kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Aus mumifizierten Leichen in einer Höhle in Mexiko konnten die Forscher Fäkalreste aus dem 7. Jh. entnehmen und analysieren. Das Ergebnis: auch hier konnten alle vier Prevotella copri Stämme nachgewiesen werden, ebenso bei Stammesgesellschaften aus Ghana und Tansania heutzutage, während in modernen Industriegesellschaften P. copri Stämmein der ursprünglichen Vielfalt nicht mehr vorkommen.  (3). 

Woher wissen wir das alles?

Den Durchbruch in der Erforschung des Darm-Mikrobioms brachten neueste technische Entwicklungen. Die entscheidende Information, ob eine Mikrobe pathogen oder natürlich vorkommend ist, liegt an ihrer DNA. Um dies zu sequenzieren, braucht es Hochdurchsatz-Sequenzierungen. In einer Sonderveröffentlichung des Wissensmagazins Spektrum wird der aktuelle Stand der Forschung zusammengefasst (4).

Es zeichnet sich ab, dass unsere Lebensumstände, also Ernährung, aber auch Umwelt, Medikamente usw., sich in der Komposition unseres Mikrobioms niederschlagen: Je moderner der Lebensstil, desto geringer ist die Diversität der Mikroorganismen auf und in unserem Körper. Dabei ist es wie bei allen hochkomplexen Ökosystemen auf unserem Planeten: Welche Funktion und Relevanz die einzelne Mikrobe innehat, ist noch weitestgehend unerforscht. Es wird also immer deutlicher, dass Eingriffe ist diese fein austarierten Systeme meistens gravierende Folgen haben.

Wie können wir unser inneres Artensterben stoppen?

Sehr viel liegt schon im Argen, soviel ist sicher. Und von heute auf morgen auf die völlig naturverbundene Lebensweise von indigenen Völkern umzustellen ist faktisch nicht möglich. Globalisierung und Moderne haben uns in einen Lebenswandel manövriert aus dem wir nicht ohne weiteres herauskommen. Der Einzelne hat nur bedingt Stellschrauben zu Verfügung, an denen er drehen kann: Möglichst unverarbeitete Lebensmittel zu sich zu nehmen, möglichst viel Zeit in der Natur zu verbringen, sich mit Tieren zu umgeben, möglichst wenig Kosmetika, Körperpflegeprodukte oder Reinigungsmittel mit antibakteriellen Wirkstoffen zu verwenden und möglichst ohne (bzw. nur aus wirklich medizinisch notwendigen Gründen) Antibiotika  auszukommen – das wären schon die wichtigsten Schritte, die jeder von uns sofort umsetzen kann. Trotzdem sind wir noch meilenweit von Ötzis Lebenswirklichkeit entfernt.

Die meisten Wissenschaftler glauben, dass es Sinn macht, die vom Aussterben bedrohten Mikroben in einer Art Arche zu konservieren, bis wir in der Lage sind medizinisch und technisch eine Wiederbesiedlung vorzunehmen. Ein Projekt ist beispielsweise „The Microbiota Vault“ (5), bei dem Wissenschaftler versuchen, möglichst viele Mikroben weltweit zu sammeln und diese an einem geografisch und politisch stabilen Ort zu konservieren. Im Gespräch sind derzeit Laboratorien in der Schweiz oder Norwegen.

Auch „The American Gut Project“ (6) oder „The Earth Microbiome Project“ (7) sind Beispiele für wissenschaftliche Ansätze, um möglichst viel der rasch verschwindenden Diversität zu erfassen und möglichst zu erhalten. Ob es eine Art „Standardtherapie“, einer Impfung gleich, für jeden Menschen geben kann oder je nach Krankheitsbild mit verschiedenen probiotischen Anwendungen Besserung erzielt wird, steht noch völlig in den Sternen. Klar ist aber: das Artensterben in uns ist in vollem Gange und wir müssen alles daransetzen, den Generationen nach uns zumindest die Chance zu geben, auf diese Vielfalt zurückzugreifen.

Wie stehen unsere Chancen?

Auch die Frage nach dem Erfolg dieser Initiativen lässt sich schwer beantworten. Wie alle Ökosysteme hat sich auch der Darm als ausgesprochen komplex und zudem als individuell äußerst unterschiedlich erwiesen. Die Besiedlung eines voll funktionsfähigen Darm-Mikrobioms kann und muss je nach Anforderungen ganz unterschiedlich aussehen. Insofern dürfte ein Standard-Mikroben-Mix eher weniger zielführend sein, da schon im Laufe eines einzelnen Menschenlebens die Zusammensetzung ganz unterschiedlich ist (8).

Grund zur Hoffnung sind aber Studien wie die von Samuel Smits von der Stanford University (9). Smits und sein Team untersuchten die Mikroben im Darm der Hadza in Tansania und konnten nachweisen, dass sich die Zusammensetzung sogar innerhalb eines Jahreszyklus umstellte. Während der Trockenzeit wenn die Ernährung am abwechslungsreichsten ist, umfasst das Mikrobiom eine deutlich höhere Vielfalt. Einige Spezies, die in der nährstoffarmen Regenzeit offenbar nicht mehr gebraucht wurden, degenerierten während dieser Periode so stark, dass sie im Darm nicht mehr nachgewiesen werden konnte, kehrten aber mit der nächsten Trockenzeit und der Erweiterung des Speiseplans wieder zurück. Dies lässt uns annehmen, dass selbst ein stark dezimiertes Mikrobiom wieder vollständig besiedelt werden kann, wenn wir ihm nur die Möglichkeit dazu geben.

Links zu Quellen:

(1) Tett A, Huang K, The Prevotella copri Complex Comprises Four Distinct Clades Underrepresented in Westernized Populations, Cell Host & Microbiome (2019), https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1931312819304275

(2) Claus S, The Strange Case of Prevotella copri: Dr. Jekyll or Mr. Hyde?, Cell Host & Microbiome (2019), https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S193131281930544X

(3) Baumgartner B, Das Artensterben im Bauch, eurac research (2019), http://www.eurac.edu/de/research/health/iceman/Pages/newsdetails.aspx?entryid=134323

(4) Viering K, Unsere Darmvielfalt ist bedroht, Spektrum (2019), https://www.spektrum.de/news/mikrobiom-gehen-immer-mehr-unserer-darmbakterien-verloren/1627970

(5) https://www.microbiotavault.org/

(6) McDonal D, Hyde E, et.al. American Gut: an Open Platform for Citizen Science Microbiome Research, Nation Lib of Med (2018), https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29795809/

(7) Gilbert J, Jansson J, Knight R, The Earth Microbiome project: successes and aspirations, BMC Biology (2014), https://bmcbiol.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12915-014-0069-1#:~:text=%20The%20Earth%20Microbiome%20project%3A%20successes%20and%20aspirations,and%20adapt%20as%20new%20collaborators%20and...%20More%20

(8) Wilmanski T, Diener C, et al. Gut microbiome pattern reflects healthy ageing and predicts survival in humans. Nat Metab (2021). https://www.nature.com/articles/s42255-021-00348-0#citeas

(9) Smits S, Leach J, et.al., Seasonal cycling in the gut microbiome of the Hadza hunter-gatherers of Tanzania, Science (2017), https://science.sciencemag.org/content/357/6353/802/tab-pdf

Lisa Keilhofer
Lisa Keilhofer
Autorin

Lisa Keilhofer studierte an der Universität Regensburg. Sie arbeitet im Bereich Internationalisierung und als freiberufliche Lektorin.

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